Hintergrund


Ein historisches Vorbild

Wenn von Regiogeld die Rede ist, fällt oft der Name “Chiemgauer”. Das Regiogeld im Chiemgau gilt als das bisher erfolgreichste Regiogeldprojekt in Europa. Genauer gesagt, das erfolgreichste noch existierende Regiogeld. Denn 1932, mitten in der Wirtschaftskrise, startete der Bürgermeister Unterguggenberger in der Tiroler Gemeinde Wörgl ein Geldexperiment, das hohe Wellen schlagen sollte. Und später doch vergessen wurde. Der Journalist Wolfgang Uchatius hält die Erinnerung wach und hat für Zeit-Online einen sehr lesenswerten Artikel dazu geschrieben: "Das Wunder von Wörgl"


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Zeit für Regiogeld!
Regionale Komplementärwährungen sind keine Erfindung der heutigen Zeit. Bereits die alten Ägypter hatten ein duales Währungssystem. Allerdings kann man in den letzten zehn Jahren einen regelrechten Boom von Regiogeldern beobachten. Es scheint sich der Spruch zu bewahrheiten, dass nichts so stark ist, wie eine Idee deren Zeit gekommen ist.  Doch wieso ist die Zeit gekommen und wie kommt man auf die Idee, eine regionale Komplementärwährung zu schaffen?
Unsere Zeit unterscheidet sich insofern von anderen Zeiten, als dass niemals in der Menschheitsgeschichte zuvor, solch astronomische Geldsummen binnen Sekunden und ohne jegliche Schranken über den Globus hin und her transferiert wurden. Mehr als 95 Prozent der weltweiten Gelder stecken in spekulativen Finanzprodukten aller Art. Mit diesen Geldern werden weder Waren noch Dienstleistungen produziert. Wenn diese Gelder etwas “produzieren”, dann sind dies spekulative Gewinne Einzelner auf Kosten Anderer und der Allgemeinheit, sowie Wirtschaftskrisen. 95 Prozent in der Spekulation bedeutet aber auch, dass es der sogenannten Realwirtschaft, also jener, die tatsächlich Waren und Dienstleistungen produziert, gerade mal gelingt, 5 Prozent der globalen Gelder anzulocken. Und davon flieβt ein Groβteil in Regionen mit starkem Wirtschaftswachstum und meist niedrigen Löhnen. So saugten z.B. allein China, Hongkong und Taiwan im Jahr 2003 fast 70 Prozent des gesamten internationalen Investitionskapitals auf.
Das Kapital kann völlig frei flieβen wohin es will. Jeder Flecken dieser Erde steht also, wenn es darum geht Geld anzuziehen oder zu behalten, in Konkurrenz zu einer Vielzahl anderer Investitionsmöglichkeiten. Der Kanton Redingen steht in direkter Konkurrenz zu Regionen mit starkem Wirtschaftswachstum und muss mit Finanzprodukten konkurrieren, die 10, 20, 30 und mehr Prozent Rendite kreieren.
Doch das eigentlich Absurde an dieser Situation ist, dass wir sie mit unseren eigenen Ersparnissen verschärfen. Denn wenn wir Geld bei einer Bank ansparen, in Fonds, Versicherungen usw. anlegen, dann flieβt ein Groβteil davon in die internationalen Finanzmärkte ab. In ländlichen Regionen liegt das Verhältnis zwischen Einlagen und Darlehen, die in die Region zurückinvestiert werden, oft bei 4 zu 1 bis 6 zu 1. Ländliche Regionen trocknen daher finanziell und wirtschaftlich langsam aber sicher aus. Und wenn doch Geld in diese Regionen zurückinvestiert wird, dann zu Konditionen, die auf den Finanzmärkten irgendwo zwischen New York, London, Singapur oder Shanghai festgelegt werden und auf die eine ländliche Region praktisch keinerlei Einfluss hat. Auf den Punkt gebracht: Mit unseren eigenen Ersparnissen finanzieren wir die Abwanderung von Kapital, die Auslagerung von Betrieben und Arbeitsplätzen selber mit.
Zudem kommt hinzu, dass durch die zunehmende Kapitalkonzentration in den Händen von einigen reichen Privatpersonen, transnationalen Konzernen, Banken und Fonds, der Anteil an Geldern, der nicht für den Konsum eingesetzt wird, sondern zur Erzielung von Renditen oder zu spekulativen Zwecken, immer gröβer wird. Was ursprünglich als Tauschmittel gedacht war, verkommt zum Spekulations- und Erpressungsmittel (siehe Forderungskatalog, der mit Krediten verbunden ist). Hinzu kommt, dass dieser Trend sich aufgrund des exponentiellen Wachstums der Geldvermögen durch Zins und Zinseszins selbst verstärkt und beschleunigt. Und die Verschuldung - das Pendant der Geldguthaben -  wächst mit. Das bedeutet auch, dass immer weniger Geld für den Konsum übrig bleibt, während spekulative Geschäfte das Wirtschaftsumfeld destabilisieren. Und es bedeutet, dass die Schere zwischen Arm und Reich automatisch immer weiter auseinander geht. Wir spielen ein globales Monopolyspiel und jeder ist gezwungen mitzumachen – allerdings, manche besitzen bereits bei Spielbeginn die Schlossallee, andere haben nicht mal einen Würfel.
Unser Schicksal wird mehr und mehr von den internationalen Finanzmärkten bestimmt - von Faktoren also, auf die wir keinen Einfluss haben. Selbst die gewählten Volksvertreter blicken fast ohnmächtig auf die Macht der Finanzmärkte. Ein Beispiel: Die 750 Milliarden Euro des EU-Rettungsschirms entsprechen gerade mal 0,07 Prozent der bereits im Jahr 2005 gehandelten Finanzderivate. Und täglich(!) ist das Volumen des Devisenhandels 2, 98, also praktisch 3mal gröβer als das Volumen des Rettungspakets. Die Staaten versuchen das Spiel der Finanzmärkte innerhalb deren Logik mitzuspielen und zu gewinnen, sitzen aber an einer Pokerpartie, bei der der Gegner viel mehr Einsatz dabei hat.
Staaten, geschweige denn kleine Regionen, können kaum auf die Finanzmärkte einwirken, die Finanzmärkte wirken jedoch bis in die kleinsten Regionen, bis in das kleinste Dorf, hinein. Auch der Kanton Redingen ist den Auswirkungen ausgesetzt und kann innerhalb der Logik der neoliberalen Globalisierung kaum Einfluss geltend machen. Bereits Albert Einstein meinte angesichts der Weltwirtschaftskrise von 1929: “Die Probleme, die es in der Welt gibt, sind nicht mit der gleichen Denkweise zu lösen, die sie erzeugt hat.”
Zeit also, die Probleme mit einer neuen Denkweise zu lösen! Zeit, sich der Logik des vorherrschenden Geldsystems und der internationalen Finanzmärkte ein Stück weit zu entziehen! Zeit für Regiogeld!

Fonds européen agricole pour le développement rural: l'Europe investit dans les zones rurales. Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes: hier investiert Europa in die ländlichen Gebiete.